Wolfgang Gießler
 

Eindeutige Spuren des Unwägbaren
Das Einfache ist das Komplexe (2009)

Wolfgang Gießler hat seine Kunst immer so angelegt, dass die Ökonomie der Mittel gewahrt blieb. Kein Zuviel. Weder an Farbe noch an malerischer Handschrift. Weder an stofflicher Qualität noch an Formenvariation. In früheren Werkphasen hat Gießler vorwiegend gemalt, hat monochrome Flächen übereinander geschichtet oder einander gegenübergestellt. Mit der gleichen abwägenden Zurückhaltung, mit der er seine malerischen Mittel einsetzte, ging Gießler vor, als er seinen künstlerischen Aktionsradius später zunächst in die dritte Dimension und dann in die Fotografie ausdehnte.

Mitte der 1980er Jahre begann Gießler mit der Werkgruppe "Kleine Objekte 1", die er aus mehrlagiger, einige Zentimeter dicker Wellpappe fertigte. Das leichte und leicht zu verarbeitende Material demonstriert Zurückhaltung, Bescheidenheit, fast Demut: Einfache Formen werden behutsam miteinander verfugt, gedämpfte Farben sorgsam nuanciert, eine Vorgehensweise, die dem Künstler auch bei seinen aus vielerlei Grau-, Schwarz- und Braunschattierungen aufgebauten Tuschearbeiten die Richtung weist. Diese aus zahlreichen Papierzuschnitten zusammengesetzten Flächen bilden die älteste zusammenhängende und fortwährend erweiterte Gruppe im Werk von Wolfgang Gießler. Die Arbeiten sind großformatig und erinnern mitunter beinahe an metallisch schimmernde Wandbehänge. Aber auch hier, im großen Format, sind die Farben voller Respekt vor der Kraft minimaler Veränderungen abgemischt. Es wird – wie bei den "Kleinen Objekten 1" oder den durch sie inspirierten "Fotografien 1" – jedes visuelle Auftrumpfen vermieden.

Die "Fotografien 1" markieren im Verhältnis zu den "Kleinen Objekten 1" gewissermaßen die Probe aufs Exempel in der Alltagsrealität. Das Nebeneinander farblich oder strukturell unterschiedlicher Flächen wird nun nicht mehr im Atelier durchgespielt, sondern gleichsam als Fundstück in die Kamera gepackt. Die nächste Umgebung liefert das, was sonst mit Farbe und Tusche ausgeformt wurde: verhaltene Szenarien akzentuierter Einfachheit. Das Unauffällige wird in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, sei es eine Ecke im Hof, sei es ein Stück Tür oder ein Detail in einer ansonsten leeren Mauer.

In seinen jüngsten Arbeiten geht Gießler noch einen Schritt weiter: Er reduziert seine Kunst darauf, ihre elementaren materiellen Bedingungen zu zeigen. Jetzt fotografiert er die Farbnäpfchen, auf deren Inhalt er mit dem Pinsel zurückgreift, wenn er malt. Er dokumentiert in dieser Fotoserie mögliche Grundlagen für das Entstehen von Kunst. Wenn man das, was er anschaulich macht, gedanklich fortsetzt, könnte man sogar sagen: Gießler spiegelt mit diesen Abbildungen etwas von dem technologischen Entwicklungsstand der historischen Epoche, in der er arbeitet. Denn die kleinen flachen Schalen, die er in den Aufnahmen festhält, sind Industrieerzeugnisse, und sie sind aus Kunststoff gefertigt, einem Material, das ab der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts zur Voraussetzung und Basis billiger Konsumgüterproduktion wurde. Schon von daher also verweisen die Fotoarbeiten auf die Gegenwart und damit auf Verhältnisse, in denen ein Künstler einerseits nicht mehr darauf angewiesen ist, seine Farben selbst anzurühren oder von einem Gehilfen zubereiten zu lassen, sich aber andererseits standardisierten Vorgaben unterwerfen muss, wenn er industriell hergestellte Farben verwendet. Die Palette wird in der Fabrik festgelegt – auch dieser Umstand kommt (wiewohl von Gießler nicht unmittelbar beabsichtigt) in der Serie zum Vorschein, die von Gelb bis Ultramarin, von Ocker bis Rotbraun eine Zwölfer-Auswahl gängiger Artikel aus dem Fachhandel vor Augen führt. Und noch ein Moment ist wichtig: Das Medium Fotografie stellt in seiner technischen Präzision einen Gegenpol dar zum offenen Verlauf und zur Prozesshaftigkeit der Malerei.

Indem er die eigenen Produktionsmittel zum Gegenstand künstlerischer Untersuchung macht und indem er diese Mittel mit der engagierten Neutralität eines Forschers, eines sachlichen Beobachters darstellt, entspricht Gießler den Maximen einer im weitesten Sinne konkreten Kunst. Der von den Künstlern der De Stijl-Bewegung, von den Konstruktivisten oder von den Zürcher Konkreten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts postulierte Anspruch, die Kunst müsse ähnlich rationalen Prinzipien und exakten Parametern folgen wie die Naturwissenschaften, wirkt auch im Werk von Wolfgang Gießler fort. Zwar macht er sich in den Fotoserien keineswegs das formale Vokabular der konkreten Malerei zu eigen, die sich auf das Gestaltungspotenzial geometrischer Geradlinigkeit und auf den Dreiklang der Primärfarben zurückzog, um damit der selbst gestellten Forderung nach elementarer Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit gerecht zu werden. Stattdessen konzentriert sich Gießler in seinen Fotoarbeiten auf die Wiedergabe isolierter Objekte. Gleichwohl aber stehen seine Aufnahmen im Kontext der konkreten Kunst, denn sie wahren den Grundsatz der Einfachheit und der ästhetischen Transparenz, was so viel heißt wie: Nichts an einem Kunstwerk soll verschleiert, verunklärt oder irgendwie mystifiziert werden. Die Instrumente und Zutaten, die seine Entstehung bewirken, sollen sich eindeutig erkennen und benennen lassen.

Hier setzt Gießler an. Er beschränkt sich darauf abzubilden, was er benutzt. Ihm ist darum zu tun, mit der Kamera das zu fixieren, was der Herstellung oder der Ausstellung von Kunst dient. Wie genau er es dabei nimmt, belegt eine weitere Fotoserie: Diesmal sind Stahlstifte der Sorte abgebildet, auf die Gießler zurückgreift, wenn er in seinem Atelier Bilder aufhängt. Offensichtlich wurden diese Nägel bereits in eine Wand geschlagen und wieder entfernt; ihre spitzen Enden weisen Spuren von Gips oder Mörtel auf, außerdem scheint das Metall stellenweise korrodiert. Wenn im Einfachen das Komplexe enthalten ist, dann deutet sich hier schon etwas von dieser Komplexität an. Denn indem er die Nägel als gebraucht zur Schau stellt, öffnet er den Blick für Bedeutungszusammenhänge, die über die abgebildeten Gegenstände hinausreichen: Sind die Mörtelspuren an den Stahlstiften ein Indiz für Mauerwerk, dann ist dieses wiederum ein Hinweis auf umbauten Raum. Der seinerseits kann nun – wenn man den Gedanken fortführt und ausbaut – als Zeichen für Architektur und damit ganz allgemein für Kultur mit ihren je spezifischen Ausprägungen aufgefasst werden. Nicht überall auf der Welt ist es üblich, Nägel in Wände zu hämmern, um diese mit Bildern zu bestücken. Die fotografische Repräsentation eines schlichten Objekts wird zum Ausgangspunkt für ein heuristisches Ausgreifen, das den Gegenstand in sein kulturelles Umfeld einordnet und das zugleich Rückschlüsse zulässt über die Verhältnisse, unter denen er zum Einsatz gelangt. Bei der Serie der Farbnäpfe kommt ein zusätzlicher Aspekt hinzu: die persönliche künstlerische Disposition. Gießler hat die handlichen Behältnisse ja nicht in dem Zustand abgelichtet, in dem sie über den Ladentisch gehen. Wie die Stahlstifte tragen sie Gebrauchsspuren, nur dass sie diesmal nicht aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Materialien, sondern aus malerischen Erfordernissen und /oder aus den Vorlieben des Künstlers resultieren. Die Reinheit der Farben – für die konkrete Kunst der ersten Stunde ein unabdingbares Gebot – ist getilgt: das Gelb ist verschmutzt, das Rot durch Abmischung gebrochen, das Blau durchmengt mit Erdtönen. Lauter Unwägbarkeiten. Jetzt zeigt sich, dass Gießlers Arbeiten doch nicht einfach nach ihren Bausteinen zu analysieren und in restlos bestimmbare Einzelfaktoren zu zerlegen sind.

Dieser Bruch mit der strengen Lehre der konstruktiv-konkreten Moderne ist Programm. Wolfgang Gießler hat seine Kunst zwar ebenso konsequent wie präzise an einem rationalen Konzept ausgerichtet. Aber der strenge methodische Ansatz, den er zur Leitlinie seines künstlerischen Vorgehens erhoben hat, lässt genügend Platz für das, was außerhalb des ausgezirkelten Rahmens exakter Definitionen liegt. Gießler kalkuliert mit dem Nicht-Kalkulierbaren. Er rechnet damit, dass es Bereiche gibt, in denen selbst die gründlichste Systematik an Grenzen stößt oder Grenzen infrage stellt. Und er bezieht dieses Nicht-Wirklich-, Nicht-Mehr- oder Noch-Nicht-Fassbare explizit in seine Arbeiten mit ein, so dass sie durchweg von einer dialektischen Spannung getragen werden: Maß und Zahl stehen Zufall, kreative Absichtslosigkeit und Intuition gegenüber. Das Messbare lässt sich vom Zufälligen unterscheiden, das Zählbare und das beiläufig Intuitive setzen sich voneinander ab, und doch entstehen Interferenzen, bildet sich so etwas wie ein osmotischer Austausch zwischen beiden Seiten.

Das ist die alles entscheidende Konstellation, die sämtlichen Arbeiten Gießlers zugrunde liegt. In der Werkgruppe "Kleine Objekte 2" macht er sie anschaulich. Jede dieser auf kompakten hochrechteckigen Blöcken aus geschichteter Wellpappe umgesetzten Malereien ist als Dichotomie konstruiert: Zwei gleich große Farbfelder teilen sich die Gesamtfläche. Die Farben stehen zu Beginn des Arbeitsvorgangs in Kontrast zueinander, am Ende ist die farbliche Differenz zwischen den beiden Bildhälften meist nur noch gering. Durch feine Lasuren sorgt Gießler dafür, dass sich der Abstand zwischen den Farbwerten verringert. So entsteht eine relative Nähe der Farbnuancen zueinander, durch die wiederum die beiden Felder in eine grenzüberschreitende Schwingung geraten; statt eines Gegensatzes wird ein vibrierender, oszillierender, insgesamt schwebender Zusammenklang sensibel abgetönter Farben wahrgenommen. So eindeutig und klar die Arbeit aufgebaut ist, die man ebenso gut als Bild wie als Objekt verstehen kann, so vielschichtig und vielstimmig ist der Eindruck, den sie erweckt.

Es läge nahe, hier eine Verknüpfung zum Begriff der Unschärferelation herzustellen, den Werner Heisenberg als quantenphysikalisches Theorem geprägt hat und der etwa ab der Mitte der 1980er Jahre in einem übertragenen Sinn mehrfach auch auf die Kunst angewandt wurde, jedenfalls wenn es um ästhetische Positionen ging, die sich – ähnlich wie bei Gießler – zwischen Sinn und Sinnlichkeit, zwischen nachgerade naturwissenschaftlicher Exaktheit und transzendenter Ungewissheit manifestieren. In einem nachgelassenen, von ihm selbst als Vermächtnis gedachten Text wandte sich Heisenberg gegen die "völlige Determiniertheit der Naturvorgänge"1 und plädierte für eine Auffassung, "bei der die Wirklichkeit in jedem Augenblick als eine bestimmte Fülle von Möglichkeiten zur objektiven Realisierung erscheint"2. Gießler beruft sich in dieser Hinsicht allerdings nicht auf die Physik, sondern auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein (insbesondere sein Spätwerk), und er nimmt eine Dichtung von Hermann Hesse als Referenz: Das Zitat aus dessen Roman "Siddhartha", das Gießler wie ein Leitmotiv zu seinem Werk gestellt hat, evoziert Vorstellungen von Ausgleich und Balance. Die äußere Welt und die innere Befindlichkeit des Menschen sind miteinander im Einklang.

Auch wenn da bei Hesse einer von Wünschen und Begierden ledigen "vita contemplativa" das Wort geredet wird, so enthält doch die von Gießler adaptierte Passage aus "Siddhartha" einen essenziellen Hinweis auf den ästhetischen Kern der Arbeiten dieses Künstlers. Außen und Innen, das Objektive und das Subjektive werden von ihm nicht als Gegensatz begriffen, sondern als unterschiedliche Zustände eines Prozesses, die es gilt, in der Waage zu halten. Bei Hesse ist mit diesem Prozess das Leben gemeint, bei Gießler die Kunst – was nicht ausschließt, dass es zwischen dieser und jenem zu Berührungen oder Überschneidungen kommt. Sie finden sich im Unscheinbaren. Dort wo der Blick nicht mehr gelockt und abgelenkt wird durch Pomp oder Spektakel. Deshalb auch Wolfgang Gießlers Affinität zu dem japanischen Kunstideal des "wabi sabi", das die tiefgründigste Poesie und die reinste Erkenntnis dort sucht, wo nichts mehr an Ansehen, Gewinn oder Erfolg zu erwarten ist: im Alten, im Abgenutzten, Unvollkommenen. Das Einfache ist nicht zuletzt unter dieser Prämisse bei Wolfgang Gießler das Komplexe – exemplarisch zu sehen an seinen Fotoserien der Stahlstifte oder der Farbnäpfe: Sie sind nicht bloß "gebraucht", sie repräsentieren Leben. Als Spannung zwischen Kräften, die sich abstoßen oder anziehen und die immer wieder neu austariert werden wollen. Dieses Austarieren bedeutet bei Gießler: Selbst in den geringsten Dingen deren Würde zu erkennen und sie vor aller Welt anzuerkennen, indem er diese Würde mit den Mitteln der Kunst in aller Einfachheit und Komplexität sichtbar macht.

Michael Hübl, Katalogtext anläßlich der Ausstellung in der Städtischen Galerie Fruchthalle Rastatt, 2009
1
Werner Heisenberg: Ordnung der Wirklichkeit. München 1989, S. 93
2
ebenda, S. 92
 

Zu den Werkgruppen (2008)

Die Fotografien sind meine jüngste Werkgruppe; die ersten "Motive" entstanden 1996. Seitdem kommen in unregelmäßigen Abständen immer neue Bilder hinzu.

Die Fotografie ist ein Medium, das in verschiedenen Formaten und Präsentationsformen auftreten kann. Darum fehlen bei den gezeigten Beispielen Größen- und Zeitangaben.

Seit 2004 gibt es eine Reihe von Bildern im Format 70 × 90  cm inklusive einem 10  cm breiten weißen Rand. Sie sind im Diasecverfahren hinter 4 mm starkes Plexiglas geklebt, auf eine 4 mm starke Aludibondplatte aufkaschiert und auf der Rückseite mit Aufhängeleisten versehen. Sobald ein Foto in dieser Form existiert, bekommt es die Datierung seiner Realisation, nicht die der Aufnahme.

Seit 2006 existieren die meisten Fotos noch in minimal veränderten Proportionen: mit haltbarer Pigmenttinte in den Maßen 11,4 × 15 cm auf 24 × 30 cm auf mattes Archivpapier gedruckt und mit Aluminiumrahmen versehen.

Im Format 19 × 25 cm auf 40 × 50 cm gibt es sie seit 2008.

Inzwischen gibt es auch innerhalb der Fotografien zwei Werkgruppen: die jüngste Gruppe der Fotografien 2 bildet Gegenstände ab, die bei meinen früheren künstlerischen Arbeiten eine Rolle gespielt haben: Farbdosen, die für die Tuschearbeiten verwendet wurden, Farbnäpfe aus alten Farbkästen, zum Aufhängen von Bildern benutzte Nägel und einiges mehr. Es handelt sich dabei immer um Serien, die Fotografien können aber durchaus auch einzeln auftreten.

Insgesamt hat jedes Motiv eine Auflage von 6 Exemplaren + 2 AP, wobei zunächst immer nur das jeweils nächste Exemplar numeriert und signiert wird.

Bei den Installationen handelt es sich um ein Modulsystem aus Hartfaserplatten, die es in 7 verschiedenen Größen gibt; die kleinsten sind 10 × 14  cm, die größten 80 × 112  cm. Dabei ist jeweils die nächstgrößere Platte doppelt so groß wie die vorhergehende.

Die Platten werden zunächst mit Acryllack bemalt, und zwar je eine Serie mit der gleichen Farbe. Danach werden die Platten "individualisiert", indem sie mit Schmirgelpapier so lange bearbeitet werden, bis sie sich in der Oberfläche voneinander unterscheiden. Zusätzlich kommen auf den geschmirgelten Lack noch mehrere Schichten verdünnter braunschwarzer Tusche; dadurch wird der künstliche Alterungsprozeß noch verstärkt.

Um diesen Alterungsprozeß als beendet zu definieren, werden die einzelnen Platten seit 2006 abschließend mit einem seidenmatten Klarlack versehen.

Durch Aneinanderfügen mehrerer Platten ergeben sich größere Einheiten. Die Tafeln werden mit Nägeln direkt auf der Wand befestigt; die "Werke" existieren nur für die Dauer ihrer Präsentation – danach gehen die Platten zurück in den "Fundus".

Die ältesten Beispiele der Werkgruppe Objekte 1 stammen aus dem Jahr 1984. Auch diese Gruppe wird in unregelmäßigen Abständen erweitert.

Im Gegensatz zur vorigen Objektgruppe haben die Objekte 2 immer den gleichen Aufbau, die gleiche Größe, und sie sind immer aus dem gleichen Material: auf einen Block aus Wellpappeplatten werden je 2 verschiedenfarbig lackierte Papiere aufkaschiert, die anschließend mit verschiedenen Tuschen weiter behandelt werden. Die Blöcke sind auf der Rückseite meistens mit 2 Aufhängevorrichtungen versehen, so daß man fast jede einzelne Arbeit auch umgekehrt aufhängen kann. Es gibt sie seit 1988.

Die Tuschearbeiten bilden – sieht man einmal von den cartoons ab – die älteste der hier gezeigten Werkgruppen; es gibt sie seit 1981. Auf diese Arbeiten beziehen sich die beiden Texte im Zusammenhang mit dem Märkischen Stipendium.

Es handelt sich insofern um Collagen, als der Bildträger aus mehreren Schichten unterschiedlich großer Papierstücke besteht, die miteinander verklebt sind. Dieser Bildträger wird mit Tusche eingefärbt und mit Schmirgelpapier behandelt. Mitunter kommt noch ein weiteres Material hinzu.

Die Wandobjekte sind mit Ösen versehen und werden ohne Rahmen mit kleinen Nägeln auf der Wand befestigt.

Tja, die cartoons... die gezeigten Zeichnungen sind alle von 2005. Manche der Ideen gehen aber zurück bis in die Zeit meines Studiums, so um 1970 herum. Seitdem kommen immer wieder Ideen dazu, die ich jetzt in einheitlichem Format verwirkliche: 30 × 24 cm. Außerdem gibt es die cartoons inzwischen auch als Drucke: mit Pigmenttinte auf Hahnemühle German Etching gedruckt.
 

Rede zur Eröffnung der Ausstellung
"Wolfgang Gießler - Fotografie" (2007)

Wolfgang Giessler ist kein Neuling im zeitgenössischen Kunstgeschehen. Von 1967 bis 1972 studierte er an der Kunstakademie in Karlsruhe. Hatte er sich damals noch mit gegenständlichen Zeichnungen, mit Cartoons, beschäftigt, wandte sich Wolfgang Gießler später der totalen Abstraktion zu.

Arbeiten der 70er und 80er Jahre , die Gießler selbst als "Tuschearbeiten" bezeichnet, verraten sein Interesse am Material und am Prozess seiner Be- und Verarbeitung. Hier war die Breite der bildnerischen Mittel beschränkt. Papierblätter, auf den Bildträger aufgeklebt und mit dunkler Tusche eingefärbt und anschließend mit Schleifpapier geschmirgelt, ließen nur einen geringen Gestaltungsspielraum zu. Diesen nutzte Wolfgang Gießler jedoch mit virtuoser Konzentration. Sie beweisen seine sensible Wahrnehmungsfähigkeit für subtile Nuancen und für das "scheinbar Unscheinbare", wie einmal über ihn geschrieben wurde. Man glaubt, in seinen Werken die destruktiven Kräfte der Natur zu spüren: Die plastische, formauflösende Struktur der aufgeklebten Blätter und ihr Schleifen erinnert an den natürlichen Witterungsprozess. In der Sprache der Kunst ausgedrückt ist es der mechanische Angriff des Künstlers auf die Klarheit der Konstruktion.

Ausgestellt hat Wolfgang Gießler hier in Rastatt aber Arbeiten seiner jüngsten Werkphase. 1996 wandte er sich der künstlerischen Fotografie zu. Sie ist heute sein wichtigstes Ausdrucksmittel.

Fotografie bedeutet die Darstellung der sichtbaren Wirklichkeit, auf die Größe des Kamerasuchers reduziert und durch seine Ränder formatiert. Sie kommt ganz ohne Material und handwerkliche Technik aus, bildet nicht, sondern bildet Gesehenes ab. Uns interessiert: Wie geht Wolfgang Gießler mit diesem Medium um, das scheinbar so passiv ist? Wird der Faden des Prozesshaften seiner Tuschebilder, ihre Materialität und ihr sichtbares Werden, weiter gesponnen und wie zeigt er sich?

Gießlers fotografische Motive sind die seiner Alltagswelt. Er sucht sie nicht, er findet sie. Zufällig Gesehenes, etwa beim Gang durch den Hinterhof seines Wohnhauses oder beim Sitzen auf dem Balkon erkennt das Auge des Künstlers als abstrakte, ausgewogene Komposition: Details von Mauern, Türen und Rohren etwa werden als kompositorische Elemente zu einem Bild kombiniert, ihre Flächen, Strukturen, Farben kontraststark gegeneinandergesetzt. Die abgebildeten Objekte verlieren ihre ursprüngliche Funktion, sie sind nicht weiter Tür, Fenster oder Rohr. Sie werden Elemente ungegenständlicher Konstruktionen, sie erhalten eine neue Sprache: die der Kunst mit ihrem eigenen Wortschatz und ihrer eigenen Grammatik, sie werden zum Bild. Gegenstände der Alltagswelt werden vom Künstler als Kunstmittel, quasi als komponierte "Kunststücke", nobilitiert. Seine Kompositionen "verleihen der unscheinbaren Wirklichkeit", wie der Künstler selbst über seine Fotos schreibt, "eine gewisse Würde".

Wolfgang Gießler erkennt die Kunst im Alltäglichen. Aus dem uns umgebenden Chaos der Dinge, aus dem grenzenlosen Angebot der von der Entfernung des Betrachters und seines Blickwinkels zu den Objekten abhängigen Kompositionsmöglichkeiten des Immer und Überall trifft Gießler eine Auswahl mit seinem Auge, das u.a. durch seine Tuschearbeiten künstlerisch sensibilisiert ist. Sein altes Interesse am Material und dem Prozess seiner Be- und Verarbeitung bleibt bestehen. Jetzt aber bildet Gießler mit seinen Fotos ab, während das Bilden selbst, das Handwerkliche, der Angriff auf die Konstruktion, das Dekonstruktive, angewitterte Oberflächen etwa, andere bereits für ihn übernommen haben.

Wolfgang Gießler bezeichnet die "Balance zwischen Absolutheit und Privatheit" als das eigentliche Anliegen seiner Kunst. Auch bei den Fotografien greift sein Credo. Das Absolute als das Überall, der vom Künstler gewählte Ausschnitt als dessen Privatheit. Gießler eröffnet uns mit dem Sucher, oder soll man besser sagen, mit dem Finder seiner Kamera die Welt der Kunst, die von ihm mit seinem wirklichen, privaten Auge in seiner Nähe als klein gesehen, mit seinem geistigen aber als groß erkannt wird. Aber so ist das mit der Kunst. Das Kleine steckt im Großen, das Große im Kleinen, die Wahrheit im Detail.

Dr. Arthur Mehlstäubler, Kunsthistoriker, Karlsruhe
Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Holger Fitterer - Malerei/Zeichnung | Wolfgang Gießler - Fotografie", Kunstverein Rastatt, 2007
 

Balance zwischen Absolutheit und Privatheit (2004)

Es kann ein Kreuz sein mit der Begabung: Alles geht leicht von der Hand, stimmt, gelingt, gefällt, ist geistvoll und witzig, ästhetisch und harmonisch, verkauft sich und lässt doch unbefriedigt, erscheint, bei (selbst-)kritischer Betrachtung, beliebig, vielleicht sogar überflüssig.

Von Heimrad Prem, einem der Gründer der Münchner Gruppe Spur, ist überliefert, dass er darunter litt, genau zu wissen, wie man gelungene Bilder malt. Wie man Farbwerte einsetzt, mit Hell-Dunkel-Kontrasten arbeitet, mit Kalt-Warm-Polaritäten umgeht, mit Komplementär-Effekten inszeniert, den Goldenen Schnitt anzuwenden versteht. Er wusste, was man braucht, um ein gutes Bild zustande zu bringen. Und er erzählt, wie er voll Frust und mit Absicht seine Bilder ruinierte, indem er mit Schwung und Wut eine Form oder Farbe hineinplatzen ließ, die nun wirklich partout nicht hineingehörte. Erst dann, so berichtet er, wurde die Arbeit für ihn interessant: Wie kann aus dem verpfuschten Bild vielleicht doch noch etwas Sinnvolles entstehen? Das Missgeschick lässt sich nicht ungeschehen machen. Aber vor der misslungenen Sache nicht zu kapitulieren, sondern sie so in die Hand zu nehmen, dass doch noch etwas – auf neue, andere Weise – Stimmiges daraus wird: Das war ihm spannende Herausforderung – "wie im wirklichen Leben".

Was sich in der Kunstgeschichte des vergangenen Jahrhunderts als umfassende Revolution ausnimmt, wiederholte und wiederholt sich immer wieder in den persönlichen Biographien der Künstler: Die Abkehr vom klassisch Schönen, die Suche nach dem Elementaren, Primitiven, Ursprünglichen, dessen Raffinesse und Komplexität zu entdecken sich als das große Abenteuer entpuppt. Am radikalsten vielleicht hat Lucio Fontana seinen Frust an einer ihn anödenden Malerei abreagiert, als er die Leinwand in südländischer Aufwallung mit dem Messer zerschlitzte. Und siehe da: Aus der Zerstörung entstand etwas Neues, Aufregendes, Entwicklungsfähiges. Die Tür war aufgestoßen.

All dies scheint wenig mit Wolfgang Gießler zu tun zu haben. Doch auch bei ihm gibt es ein Damaskus-Erlebnis, eine radikale Abkehr vom bisher für gut und richtig Gehaltenen, durchaus Gelungenen: 1980 begann er von vorn. Er hörte auf zu zeichnen, verzichtete auf vieles, was er "konnte", ohne freilich diesen Hintergrund völlig loszuwerden. Technische Professionalität blieb weiterhin, auch im bewussten Verzicht, das tragfähige Fundament neuer Versuche, Erfindungen und Erfahrungen. So verabschiedete er sich keineswegs von den vertrauten Materialien Papier und Tusche, nur setzte er sie jetzt völlig anders ein, schichtete und klebte, ließ reliefartige Strukturen entstehen, lineare Begrenzungen die Fläche strukturieren. Wenige Farbakzente markierten Teilungen, Tusche schließlich veränderte das Papier, gab ihm einen völlig anderen Materialcharakter. Ein Weg war beschritten, der sich zwar, kunsthistorisch betrachtet, nicht im luftleeren Raum bewegte, aber doch ein sehr eigenes Terrain, eine neue Vielfalt, erschloss.

Sinnvolle Askese – nicht nur in der Kunst – entspringt also nicht masochistischem Bedürfnis, sondern ist ein Weg, Neues zu erfahren: Reduktion nicht als Verarmung, sondern als Methode, zu neuem Reichtum zu gelangen, jenseits des Feuerwerks malerischer Events und brillanter zeichnerischer Einfälle neue Werte und Weiten zu erschließen, die nur scheinbar karger sind als die, auf die man mit Absicht verzichtet hat.

Gießler ist diesen Weg konsequent weitergegangen. Seine Bilder wurden strenger und karger, nicht immer einfache Kost gerade wegen ihrer – scheinbaren – Einfachheit. Dem aufmerksamen Betrachter aber eröffnete sich eine Welt neuer, subtiler Nuancen, ein komplexes Spannungsfeld zwischen rationaler Form und irrationaler Normabweichung.

Monochromie und serielle Herstellung, Normierung der Formate, Experimentieren mit unterschiedlich einsetzbaren Modulen, so dass aus Einzelbildern Reihen und Serien, variable Cluster, "Superzeichen", Kompositionen nach dem Baukastenprinzip entstanden, die Wand zum eigentlichen "Bildträger" wurde – all dies war immer nur die eine Seite. Die andere insistierte auf Individualität, doch kehrte diese, pikanterweise, nicht als expressiver Duktus wieder, sondern in einem Prozess partieller Zerstörung, gleichsam künstlicher Alterung der Oberfläche. Gießler schmirgelte die gemalten und gelackten Oberflächen seiner Bildobjekte ab, so dass sie wie benutzt wirkten, dass in ihnen fiktive Geschichte ins Spiel kam.

Der Bogen schließt sich zur jüngsten Werkgruppe, den Fotografien. Mit sicherem Blick für Komposition wird Gießler im Bereich unscheinbarer Alltagswirklichkeit fündig. Die Unterscheidung zwischen gegenständlich und "abstrakt" wird dabei vollends hinfällig. Zwar ist der Eingriff – oder Zugriff – des Künstlers immer Abstraktion, doch entsteht dabei nicht nur neue Wirklichkeit, sondern diese bleibt zugleich der Realität, die Ausgangspunkt der Arbeit war, verbunden. Dies genau ist das Spannungsfeld, das den Künstler interessiert. Er selbst hat sich darüber wie folgt geäußert: Die Komposition "verleiht der unscheinbaren Wirklichkeit, der das Motiv entstammt, eine gewisse Würde". Und, rückblickend: Es gab in seinem Schaffen "immer das Spannungsverhältnis von Klarheit im Aufbau einerseits und gewissermaßen handschriftlichen Unregelmäßigkeiten andererseits". Schließlich: "Diese Balance zwischen Absolutheit und ‚Privatheit' kann man vielleicht als das eigentliche Anliegen meiner Kunst ansehen".

Es geht, nicht zuletzt, um die Rehabilitation, das ästhetische "Recycling" des tatsächlich Gealterten, Vernutzten, Weggeworfenen. Hier ist nicht der Ort, Werkentwicklung und Werkgruppen im einzelnen und ausführlich vorzustellen. Nur so viel, abschließend: Was mitunter wie eine verblüffende Wendung erscheint, erweist sich im Nachhinein, im Kontext betrachtet, als logischer Schritt, wenngleich ein solcher auch für den Künstler selbst überraschend sein kann, ebenso überraschend wie die Stimmigkeit, mit der sich, im Rückblick, das Neue der Biographie einfügt.

Prof. Hans Gercke, Direktor des Heidelberger Kunstvereins, Heidelberg, im August 2004
 

Zu meiner Arbeit (2003)

Bei meiner jüngsten Werkgruppe handelt es sich zum ersten Mal um Fotografien; die bisherigen Werkgruppen bestehen aus Zeichnungen, Collagen und vor allem aus malerischen Wandobjekten, z.T. großformatig.

Bei den Fotografien handelt es sich um Ausschnitte einer unscheinbaren Wirklichkeit. Der Ausschnitt ist jeweils so gewählt, daß sich innerhalb des querformatigen Bildrechtecks eine klare Komposition ergibt. Diese Komposition ist wichtig: sie verleiht der unscheinbaren Wirklichkeit, der das Motiv entstammt, eine gewisse Würde.

Man könnte meinen, ich sei nach über 20 Jahren ungegenständlicher Kunst nun in der sichtbaren Wirklichkeit angekommen, aber auch meine früheren Arbeiten beinhalten Elemente und Aspekte der sichtbaren Welt: vor allem Oberflächenreize, die Assoziationen an abgenutzte Materialien zulassen oder den Herstellungsprozeß nachvollziehbar machen. So gesehen, war meine Arbeit nie "konkret" im klassischen Sinne – es gab immer das Spannungsverhältnis von Klarheit im Aufbau einerseits und gewissermaßen handschriftlichen Unregelmäßigkeiten andererseits.

Diese Balance zwischen Absolutheit und "Privatheit" kann man vielleicht als das eigentliche Anliegen meiner Kunst ansehen.
 

Zu meiner Arbeit (1983)

Ich sehe die Entstehung meiner Arbeiten als einen Entwicklungsprozeß.

Das Material reagiert auf die Bearbeitung.

Es schafft neue Voraussetzungen und fordert neue Entscheidungen. Ich versuche, die verschiedenen Arbeitsschritte zu einer Einheit werden zu lassen.

Wenn es gelingt, dann ist am Ende etwas entstanden mit einer eigenen Vergangenheit und einem gewachsenen Charakter.
 

Begründung der Jury zum Märkischen Stipendium (1983)

"Die Jury hat Wolfgang Gießler aus dem Kreis der in die engere Wahl genommenen Bewerber als Stipendiaten für das Märkische Stipendium 1983 für Bildende Kunst ausgewählt.

Sie anerkennt, daß sich die Arbeiten des Künstlers trotz unverkennbarer Verhaltenheit im Inhaltlichen, in den Mitteln und der Farbe durch eine bemerkenswerte Vielfalt der Gestaltung auszeichnen und im Verzicht auf äußere Hilfen vom Betrachter ein verständnisvolles und verständnisfähiges Eingehen auf das scheinbar Unscheinbare erwarten."